Zwangsverrentung > EM-Rente und Altersrente

1. Das Wichtigste in Kürze

Die Krankenkasse, die Agentur für Arbeit, das Jobcenter oder das Sozialamt kann Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen in eine Erwerbsminderungsrente (EM-Rente) zwingen, was viele Nachteile haben kann, zum Beispiel eine dauerhaft niedrigere Altersrente. Ab 2027 können die Jobcenter außerdem voraussichtlich wieder ältere Menschen in eine vorgezogene Altersrente mit Abschlägen (= Rentenkürzungen) zwingen.

2. Nachteile der Zwangsverrentung in eine EM-Rente

Der Bezug einer EM-Rente kann viele Nachteile haben:

  • Weniger Einkommen: Krankengeld und Arbeitslosengeld sind meistens höher als eine EM-Rente, enden aber bei Bewilligung einer EM-Rente.
  • Niedrigere Altersrente:
  • Höhere Kosten: Wer Krankengeld bezieht, ist beitragsfrei krankenversichert, wer eine EM-Rente bezieht muss Krankenkassenbeiträge zahlen.
  • Arbeitsplatzverlust: Viele Arbeitsverträge enden automatisch bei einem Rentenantrag.
  • Verlust von Ansprüchen aus einer Betriebsrente: Durch den Bezug einer EM-Rente können Ansprüche aus einer Betriebsrente ganz oder teilweise verloren gehen.

3. So kann die Krankenkasse oder Agentur für Arbeit in eine EM-Rente zwingen

Die Krankenkasse, oder beim Bezug von Arbeitslosengeld die Agentur für Arbeit, kann Versicherte über eine Aufforderung zu einem Reha-Antrag bei der Rentenversicherung in eine EM-Rente zwingen. Die Krankenkasse kann das schon ab Beginn der Krankschreibung tun, aber meistens passiert es erst beim Bezug von Krankengeld. Wer den Reha-Antrag nach Aufforderung nicht fristgerecht stellt, bekommt erst (wieder) Krankengeld bzw. Arbeitslosengeld, wenn der Reha-Antrag gestellt worden ist. Wenn die Rentenversicherung eine Reha-Maßnahme für aussichtslos hält, wird der Reha-Antrag automatisch als Antrag auf EM-Rente gewertet. Auch wenn eine Reha bereits durchgeführt wurde und erfolglos war, deutet die Rentenversicherung den ursprünglichen Antrag nachträglich als Antrag auf EM-Rente um (= Umdeutung).

Betroffene können normalerweise die Umdeutung verhindern, indem sie der Rentenversicherung mitteilen, dass sie mit der Umdeutung nicht einverstanden sind und keine EM-Rente beantragen wollen. Das gehört zu ihrem sog. Gestaltungsrecht (= Dispositionsrecht). Das ist das Recht, über den Reha-Antrag zu entscheiden. Aber eine Aufforderung zum Reha-Antrag durch die Krankenkasse oder die Agentur für Arbeit schränkt dieses Recht ein. Die Betroffenen dürfen die Umdeutung dann nur noch mit Zustimmung der Krankenkasse bzw. der Agentur für Arbeit verhindern.

Wenn die Krankenkasse oder Agentur für Arbeit die Zustimmung verweigert, dann tritt die Umdeutung in Kraft und es läuft automatisch ein Antrag auf eine EM-Rente, obwohl eigentlich nur eine Reha beantragt war.

Es gelten unterschiedliche Fristen und Voraussetzungen für die Aufforderung zum Reha-Antrag:

  • Krankenkasse:
    • Frist: Reha-Antrag innerhalb von 10 Wochen
    • Voraussetzung: aus medizinischer Sicht ist eine Erwerbsminderung zu vermuten
  • Agentur für Arbeit:
    • Frist: Reha-Antrag innerhalb eines Monats
    • Voraussetzung: der ärztliche Dienst der Agentur für Arbeit nimmt eine Erwerbsminderung an

3.1. Wann muss die Krankenkasse zustimmen?

Wenn ein berechtigtes Interesse der versicherten Person die finanziellen Interessen der Krankenkasse überwiegt, muss diese zustimmen, dass die versicherte Person ihr Gestaltungsrecht gegenüber der Rentenversicherung ausübt und erklärt, dass der Reha-Antrag nicht in einen Antrag auf eine EM-Rente umgedeutet werden darf.

Beispiele für berechtigte Interessen:

  • Das Krankengeld läuft bald aus. Deswegen verliert die Krankenkasse kaum Geld, wenn zunächst noch keine EM-Rente beantragt wird.
  • Die Rente wäre bei einem späteren Rentenbeginn viel höher.
  • Im für die versicherte Person gültigen Tarifvertrag steht, dass ein Rentenantrag automatisch das Arbeitsverhältnis beendet.
  • Bei einer EM-Rente geht der Anspruch auf eine Betriebsrente verloren.

Es zählt aber nicht als berechtigtes Interesse, dass das Krankengeld höher als die EM-Rente ist.

Versicherte können bei einem berechtigten Interesse die Zustimmung bei der Krankenkasse beantragen. Wenn die Krankenkasse den Antrag ablehnt, können die Versicherten dagegen einen Widerspruch einlegen und wenn dieser ebenfalls abgelehnt wird, können sie beim Sozialgericht dagegen klagen.

3.2. Wann muss die Agentur für Arbeit zustimmen?

Ob die Agentur für Arbeit ebenfalls bei einem berechtigten Interesse die Zustimmung geben muss, ist rechtlich noch ungeklärt. Dennoch können und sollten die Versicherten bei einem berechtigten Interesse den Antrag auf die Zustimmung stellen. Es kann sein, dass sie damit Erfolg haben, besonders dann, wenn sie bereit sind, bei einer Ablehnung einen Widerspruch einzulegen und danach dagegen zu klagen.

3.3. Praxistipps

  • Viele Aufforderungen zum Reha-Antrag sind rechtswidrig. Dagegen können Sie sich mit einem Widerspruch und ggf. mit einer Klage wehren. Hinweise dazu, wann eine Aufforderung zum Reha-Antrag von der Krankenkasse rechtswidrig ist, finden Sie unter Krankengeld > Keine Zahlung.
  • Ein Widerspruch ist kostenlos und führt für Sie unabhängig von seinen Erfolgsaussichten immer zu einem Zeitgewinn. Bis zur Entscheidung dauert es normalerweise mehrere Wochen, in denen Sie weiter das meist höhere Krankengeld beziehen können. Diese Verzögerung kann ggf. Ihre EM-Rente und Ihre spätere Altersrente erhöhen, weil die Rentenabschläge in höherem Alter niedriger sind oder sogar schon eine abschlagsfreie EM-Rente möglich ist. Deswegen lohnt sich ein Widerspruch in der Regel auch dann, wenn die Aufforderung rechtmäßig ist.
  • Nimmt der ärztliche Dienst der Agentur für Arbeit bei Ihnen eine volle Erwerbsminderung an, bekommen Sie Ihr Arbeitslosengeld nach der sog. Nahtlosigkeitsregelung so lange weiter bezahlt, bis die Rentenversicherung eine volle Erwerbsminderung feststellt, oder die Höchstbezugsdauer des Arbeitslosengelds endet.

4. So kann das Jobcenter in eine EM-Rente zwingen

Die Jobcenter können wie folgt in eine EM-Rente zwingen:

  1. Begutachtung durch ihren ärztlichen Dienst
  2. Aufforderung zum Antrag auf eine EM-Rente in einer individuell festlegelegten Frist
  3. die EM-Rente selbst beantragen, wenn die betroffene Person den Antrag nicht fristgerecht stellt
  4. wenn die Rentenversicherung die EM-Rente ablehnt, die versicherte Person zu einem Widerspruch und ggf. auch zu einer Klage dagegen auffordern und wenn das nicht fristgerecht erfolgt, den Widerspruch oder die Klage selbst einreichen

Gegen die Aufforderung zum Rentenantrag oder zu einem Widerspruch oder einer Klage gegen die Ablehnung einer EM-Rente sind zwar ein Widerspruch und eine Klage gegen das Jobcenter möglich, aber diese haben keine aufschiebende Wirkung. Deswegen kann hier nur ein gerichtliches Eilverfahren helfen.

4.1. Praxistipps

  • Solange die Rentenversicherung über den Rentenantrag noch nicht entschieden hat, muss das Jobcenter das Bürgergeld weiterzahlen. Wenn die Rentenversicherung schließlich nur eine EM-Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung oder eine sog. Arbeitsmarktrente bewilligt (Näheres unter Erwerbsminderungsrente), kann weiter Bürgergeld bezogen werden, falls die EM-Rente zu niedrig zum Leben ist.
  • Wenn die Rentenversicherung aber eine volle Erwerbsminderung feststellt, besteht kein Anspruch mehr auf zusätzliches Bürgergeld. Das gilt auch dann, wenn die EM-Rente wegen voller Erwerbsminderung abgelehnt wird, weil die dafür nötige Wartezeit noch nicht erfüllt ist, oder wenn eine EM-Rente wegen voller Erwerbsminderung bewilligt wird, die zu niedrig zum Leben ist. Statt Bürgergeld können Menschen mit voller Erwerbsminderung aber bei einer fehlenden oder zu niedrigen EM-Rente ergänzende Sozialhilfe erhalten.
  • Das Jobcenter darf Ihnen nicht wegen fehlender Mitwirkung das Bürgergeld kürzen, wenn Sie den Antrag auf eine EM-Rente nicht selbst stellen oder nicht selbst gegen eine abgelehnte EM-Rente einen Widerspruch einlegen oder klagen. Stattdessen muss es sich immer selbst darum kümmern. Wenn Sie dennoch eine Kürzung Ihres Bürgergelds bekommen, können Sie sich dagegen mit einem Widerspruch und einem gleichzeitigen gerichtlichen Eilverfahren wehren. Das Jobcenter darf und muss Ihnen aber das Bürgergeld kürzen oder streichen, solange Sie bei einem vom Jobcenter eingeleiteten Rentenverfahren trotz vorheriger Aufforderung vom Jobcenter nicht ausreichend mitwirken, also z.B. keine ausreichenden Belege einreichen oder sich nicht begutachten lassen.
  • Sie sollten dem Jobcenter vor einer Aufforderung zum Antrag auf eine EM-Rente von sich aus mitteilen, welche Nachteile eine Zwangsverrentung für Sie hätte. Das Jobcenter muss Sie nämlich nicht unbedingt in die Rente zwingen, sondern das ist eine Ermessensentscheidung. Dabei muss das Jobcenter die Vor- und Nachteile abwägen, sonst ist die Aufforderung zum Antrag auf die EM-Rente rechtswidrig und Sie können erfolgreich mit einem Widerspruch und einem gerichtlichen Eilverfahren dagegen vorgehen. Näheres unter Rechtsanspruch und Ermessen.

5. So kann das Sozialamt in eine EM-Rente zwingen

Das Sozialamt darf:

  • Sozialhilfeempfänger zu einem Antrag auf eine EM-Rente auffordern
  • die EM-Rente selbst beantragen, wenn der Antrag nicht fristgerecht gestellt wird
  • bei einer Ablehnung der EM-Rente zu einem Widerspruch oder einer Klage auffordern und wenn das nicht fristgerecht erfolgt, den Anspruch auf die EM-Rente selbst mit einem Widerspruch und ggf. mit einer Klage durchsetzen

Folgendes darf das Sozialamt aber nicht:

  • Einen Antrag auf Sozialhilfe ablehnen, weil ein Anspruch auf eine EM-Rente besteht, aber diese noch nicht beantragt wurde
  • die Sozialhilfe wegen fehlender Mitwirkung kürzen oder streichen, weil der Mensch mit dem möglichen Anspruch auf EM-Rente diese nicht selbst beantragt hat
  • die Sozialhilfe wegen fehlender Mitwirkung beim Rentenverfahren kürzen oder streichen (hier gelten andere Regeln als für die Jobcenter)

6. Keine Pflicht zum Antrag auf eine vorgezogene Altersrente mit Abschlägen

Während eine Zwangsverrentung in eine EM-Rente möglich ist, darf weder die Agentur für Arbeit, noch die Krankenkasse, noch das Jobcenter Versicherte in eine vorgezogene Altersrente mit Abschlägen zwingen. Abschläge sind dauerhafte Rentenkürzungen als Ausgleich für den früheren Rentenbeginn, Näheres unter Altersrente für langjährig Versicherte und Altersrente für schwerbehinderte Menschen.

  • Agentur für Arbeit:
    • muss Arbeitslosengeld bis zum regulären Renteneintrittsalter weiterzahlen, solange der Anspruch darauf noch nicht ausgeschöpft ist
    • Arbeitslosengeld endet automatisch, wenn das reguläre Renteneintrittsalter erreicht ist (auch ohne Bewilligung einer Rente)
  • Krankenkasse:
    • darf beim Bezug vom Krankengeld nur zum Antrag auf eine Regelaltersrente innerhalb von 10 Wochen auffordern
    • muss nach Ablauf der Frist erst wieder Krankengeld zahlen, wenn der Antrag gestellt wurde
    • muss bis zur Bewilligung der Rente weiter Krankengeld zahlen
  • Jobcenter:
    • darf befristet bis Ende 2026 niemanden in eine vorgezogene Altersrente mit Abschlägen zwingen
    • darf zu einem Antrag auf eine abschlagsfreie Altersrente für schwerbehinderte Menschen oder eine abschlagsfreie Altersrente für besonders langjährig Versicherte auffordern, wenn die Voraussetzungen für eine dieser Rentenarten erfüllt sind
    • darf den Antrag selbst stellen, wenn die Aufforderung keinen Erfolg hat
    • darf das Bürgergeld nicht kürzen oder streichen, wenn die Person mit dem Anspruch auf die Altersrente diese nicht selbst beantragt
    • muss das Bürgergeld bei fehlender Mitwirkung im Rentenverfahren kürzen oder streichen

6.1. Zwangsverrentung in eine Altersrente mit Abschlägen ab 2027

Voraussichtlich dürfen die Jobcenter ab 2027 Menschen ab ihrem 63. Geburtstag auch wieder zu einer vorgezogenen Altersrente mit Abschlägen auffordern und diese Rente selbst beantragen, wenn es die Berechtigten nicht selbst tun. Dann gelten voraussichtlich aber auch wieder die Ausnahmen der sog. Unbilligkeitsverordnung.

Dort ist geregelt, dass das Jobcenter z.B. niemanden in eine vorgezogene Altersrente zwingen darf, wenn dadurch z.B. Ansprüche auf Arbeitslosengeld verloren gehen würden oder wenn der Mensch neben dem Bürgergeld sozialversicherungspflichtig arbeitet oder schon eine schriftliche Zusage für eine sozialversicherungspflichtige Arbeit hat. Die weiteren Ausnahmen der Unbilligkeitsregeln können unter www.gesetze-im-internet.de/unbilligkeitsv/BJNR073400008.html nachgelesen werden.

7. Verwandte Links

Erwerbsminderungsrente

Erwerbsminderungsrente > Höhe

Erwerbsminderung

Krankengeld

Arbeitslosengeld

Bürgergeld

Altersrente für langjährig Versicherte

Altersrente für schwerbehinderte Menschen

 

Rechtsgrundlagen:

  • Krankengeld: § 51 SGB V
  • Arbeitslosengeld: § 145 Abs. 2 SGB III
  • Bürgergeld: § 5 Abs. 3 SGB II
  • Sozialhilfe: § 95 Satz 1 SGB XII

Letzte Bearbeitung: 31.07.2025

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