Fehlende Mitwirkung

1. Das Wichtigste in Kürze

Wegen fehlender Mitwirkung, also wegen fehlender Belege, Angaben oder Untersuchungen, können Sozialleistungen zu 100 % oder teilweise versagt werden. Das gilt z.B. für das Jobcenter, das Jugendamt oder das Sozialamt, für Sozialversicherungsträger wie z.B. Rentenversicherungsträger oder Unfallversicherungsträger und für ganz verschiedene Leistungen wie z.B. Bürgergeld, Sozialhilfe, Reha oder Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen. Die Mitwirkungspflichten haben Grenzen und das Recht auf das menschenwürdige Existenzminimum darf nicht verletzt werden.

Hinweis: Die Versagung wegen fehlender Mitwirkung ist etwas anderes als die Leistungsminderungen beim Bürgergeld. Minderungen dürfen höchstens 30 % des sog. Regelsatzes betragen und nur bei konkreter Arbeitsverweigerung entfällt der Anspruch auf den Regelsatz komplett. Näheres unter Bürgergeld > Kooperationsplan und Leistungsminderungen. Die bis zu 100%ige Versagung wegen fehlender Mitwirkung ist beim Bürgergeld zusätzlich möglich.

2. Wann dürfen Leistungen wegen fehlender Mitwirkung versagt werden?

Sozialleistungen kann die zuständige Behörde oder der zuständige Sozialversicherungsträger teilweise oder komplett versagen, wenn Leistungsberechtigte gegen eine der folgenden Mitwirkungspflichten verstoßen:

  • Pflicht, alle Tatsachen anzugeben, die für die Leistung erheblich sind
  • Pflicht, auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers zuzustimmen, dass Dritte Auskunft geben oder Belege bzw. Beweismittel vorlegen dürfen (z.B. in Form einer Schweigepflichtentbindung)
  • Pflicht, leistungserhebliche Änderungen unverzüglich (= so schnell wie möglich) mitzuteilen
  • Pflicht, Belege bzw. Beweismittel zu nennen und auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers vorzulegen, z.B. Kontoauszüge, Mietvertrag, medizinische Unterlagen
  • Pflicht, auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers persönlich zu erscheinen:
    • zu Gesprächen über den Antrag
      oder
    • für Maßnahmen, die für die Entscheidung nötig sind
  • Pflicht, sich ärztlich oder psychologisch untersuchen zu lassen, wenn das für die Entscheidung über die Leistung notwendig ist

Die Leistungen werden dann erst gewährt bzw. gezahlt, wenn die notwendige Mitwirkung nachgeholt wurde.

3. Wann dürfen Leistungsberechtigte die Mitwirkung verweigern?

Die Mitwirkungspflichten haben aber Grenzen:

  • Unangemessener Aufwand im Verhältnis zur Leistung oder Erstattung.
  • Unzumutbarkeit aus einem wichtigen Grund.
  • Die Behörde oder der Sozialversicherungsträger kann sich mit weniger Aufwand die erforderlichen Kenntnisse selbst beschaffen.
  • Untersuchungen,
    • bei denen ein Schaden für Leben oder Gesundheit nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden kann
      und/oder
    • die mit erheblichen Schmerzen verbunden sind.
  • Aussage- oder Zeugnisverweigerungsrecht, weil durch die Angaben die Verfolgung wegen einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit der Person selbst oder von nahen Angehörigen drohen würde.

In diesen Fällen dürfen die Leistungen nicht versagt werden.

4. Handlungsspielraum der Behörden und Träger

Wenn die Voraussetzungen für eine mögliche Streichung oder Kürzung der jeweiligen Leistungen vorliegen, heißt das nicht, dass das auch immer passiert. Denn ob die Behörde oder der Sozialversicherungsträger die Leistungen nicht, teilweise oder komplett versagt, ist eine sog. Ermessensentscheidung. Näheres unter Rechtsanspruch und Ermessen.

Bei der Entscheidung muss das Amt oder der Sozialleistungsträger alle wichtigen Umstände berücksichtigen, auch das Recht eines jeden Menschen auf das menschenwürdige Existenzminimum: Jeder Mensch muss in Würde leben können (siehe unten).

5. Wann können Sozialleistungen noch gekürzt oder gestrichen werden?

Neben der kompletten oder teilweisen Versagung von Leistungen wegen fehlender Mitwirkung gibt es bei einzelnen Sozialleistungen weitere Möglichkeiten für verhaltensbedingte Kürzungen oder Streichungen der Leistungen, z.B.:

6. Wann ist eine Versagung verfassungswidrig?

6.1. Das Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum

Eine Versagung von Leistungen wegen fehlender Mitwirkung ist verfassungswidrig und damit unrechtmäßig, wenn das Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum verletzt wird. Jeder Mensch in Deutschland hat das Recht darauf, in Würde zu leben, und weil Deutschland ein Sozialstaat ist, gibt es auch ein Recht auf das sog. menschenwürdige Existenzminimum. Dieses Recht gewährt das Grundgesetz und es bedeutet, dass jeder Mensch in Deutschland das Recht darauf hat,

  • seine körperlichen Grundbedürfnisse, z.B. nach Schlaf, Nahrung und Wasser,
    und
  • seine Grundbedürfnisse nach Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben erfüllen zu können.

Die Menschenwürde steht allen zu, egal, wie sie sich verhalten. Das gilt auch dann, wenn Menschen z.B. eine Untersuchung verweigert haben, oder ihre Kontoauszüge nicht vorgelegt haben.

Das Recht auf das menschenwürdige Existenzminimum gehört zu den wichtigsten Verfassungsgrundsätzen in Deutschland, die von der sogenannten Ewigkeitsgarantie des Grundgesetzes umfasst sind. Das bedeutet, dass es nicht aus dem Grundgesetz gestrichen werden kann, auch nicht durch eine Verfassungsänderung.

6.2. Kürzen und Streichen beim Existenzminimum?

Es verstößt nicht gegen das Recht aufs menschenwürdige Existenzminimum, wenn der Staat nur wirklich Bedürftigen hilft. Deshalb darf ein Amt oder Sozialversicherungsträger auch für ein Leben in Würde notwendige Sozialleistungen kürzen oder streichen, aber nur,

  • solange es verhältnismäßig zu dem Ziel ist, das damit erreicht werden soll,
    und
  • wenn die betroffene Person selbst in zumutbarer Weise dafür sorgen kann, dass sie die nötige Leistung (wieder) bekommt.

Bei einer Versagung wegen fehlender Mitwirkung können die Betroffenen die Mitwirkung nachholen, also z.B. die fehlenden Belege nachreichen, die fehlenden Angaben machen oder die fehlende Untersuchung akzeptieren. So können Sie erreichen, dass sie die Leistung (wieder) bekommen.

Es hängt aber vom Einzelfall ab,

  • ob ihnen diese Mitwirkung zumutbar ist oder nicht
    und
  • ob die Kürzung oder Streichung verhältnismäßig ist oder nicht.

6.3. Keine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Versagung wegen fehlender Mitwirkung

Es gibt bisher noch keine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts darüber, ob und ggf. in welchen Situationen die komplette oder teilweise Versagung von Sozialleistungen wegen fehlender Mitwirkung verfassungswidrig ist. Solange das Bundesverfassungsgericht noch nicht über das Thema entschieden hat, kann aber niemand sicher sagen, wann genau eine Versagung wegen fehlender Mitwirkung in Ordnung ist und wann sie verfassungswidrig ist.

Das Bundesverfassungsgericht kann zwar darüber entscheiden, ob einfache Gesetze, z.B. die Gesetze, die Sozialleistungen regeln, mit dem Grundgesetz vereinbar sind oder nicht, aber das darf es nicht von sich aus tun, sondern nur, wenn betroffene Menschen klagen.

6.4. Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts: Verfassungswidrige Hartz-IV-Sanktionen

Das Bundesverfassungsgericht hat bereits 2019 über ein ähnliches Thema entschieden: über die sog. Sanktionen beim "Hartz IV". Das waren Kürzungen des damaligen Arbeitslosengelds II, das inzwischen durch das Bürgergeld ersetzt worden ist. Diese Kürzungen waren teilweise verfassungswidrig, unter anderem dann, wenn sie mehr als 30 % des sog. Regelsatzes umfassten, weil sie aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts unverhältnismäßig waren.

Seitdem gab es keine höheren Hartz-IV-Sanktionen mehr und "Hartz IV" ist nicht zuletzt aus diesem Grund Geschichte und wurde durch das Bürgergeld ersetzt. Näheres unter Grundsicherung für Arbeitsuchende. Die früheren Sanktionen wurden durch sog. Leistungsminderungen ersetzt, die nur noch höchstens 30 % des jeweiligen Regelsatzes betragen durften. Erst zum 28.03.2024 wurde wieder eine gesetzliche Regelung geschaffen, wonach der komplette Regelsatz beim Bürgergeld während einer konkreten Arbeitsverweigerung entfallen kann. Näheres unter Bürgergeld > Kooperationsplan und Leistungsminderungen.

6.5. Komplette Versagung von Leistungen bleibt möglich

Aber die Versagung von Leistungen wegen fehlender Mitwirkung beim Bürgergeld gibt es immer noch und zwar sogar als komplette Versagung der Leistungen. Bei einer kompletten Versagung des Bürgergelds wegen fehlender Mitwirkung werden die Leistungen nicht nur um 30 % des Regelsatzes gekürzt, sondern um 100 %, was bedeutet, dass der ganze Regelsatz gestrichen wird. Aber das ist noch nicht alles: Nicht nur der Regelsatz kann gestrichen werden, sondern auch alle anderen Leistungen, z.B. die Leistungen für die Kosten der Unterkunft und die Krankenversicherung. Betroffene können dadurch z.B. obdachlos werden und/oder Hunger leiden.

Außerdem gibt es die komplette Versagung wegen fehlender Mitwirkung immer noch bei den anderen Sozialleistungen, sogar bei der Sozialhilfe, bei Renten und bei Leistungen für Menschen mit Behinderungen.

Nach der oben genannten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts kann unter Umständen eine komplette Versagung existenzsichernder Leistungen auch verfassungsgemäß sein, wenn Menschen sich weigern, eine aktuell verfügbare, zumutbare Arbeit anzunehmen, die bei ihrer Annahme tatsächlich ihre Existenz sichern würde.

Deshalb wurde zum 28.03.2024 das Gesetz eingeführt, wonach der Regelsatz beim Bürgergeld unter bestimmten Umständen komplett entfällt, solange Bürgergeldbeziehende verweigern, eine konkret verfügbare zumutbare Arbeit anzunehmen.
Doch anders als vom Bundesverfassungsgericht gefordert, steht in dem Gesetz nicht, dass der Regelsatz nur entfallen kann, wenn die verweigerte Arbeit bei einer Annahme tatsächlich die Existenz sichern würde. Insoweit kann es bei der Anwendung dieses Gesetzes zu verfassungswidrigen Entscheidungen kommen, wenn ein Job verweigert wird, mit dem nur sehr wenig verdient werden könnte.

6.6. Entscheidung des Sozialgerichts Berlin

2022 hat das Sozialgericht Berlin entschieden, dass das fürs Bürgergeld zuständige Jobcenter auch bei einer Versagung wegen fehlender Mitwirkung Folgendes berücksichtigen muss, wenn es nur um die Frage geht, ob das Jobcenter oder das Sozialamt zuständig ist:

  • das Recht auf das menschenwürdige Existenzminimum
  • die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu den inzwischen abgeschafften verfassungswidrigen Sanktionen
  • das Risiko einer Obdachlosigkeit

Das Sozialgericht Berlin hatte dabei über den Fall einer Person zu entscheiden, die sich nicht untersuchen lassen wollte. So konnte das Jobcenter nicht klären, ob die Person erwerbsfähig ist, was aber Voraussetzung für die Zuständigkeit des Jobcenters ist. Bei fehlender Erwerbsfähigkeit ist das Sozialamt zuständig und muss Sozialhilfe zahlen. Das Sozialgericht Berlin hat entschieden, dass es unverhältnismäßig ist, eine Person ohne lebensnotwendige Leistungen zu lassen, nur damit das Jobcenter nicht statt des Sozialamts zahlen muss, wenn es die Zuständigkeit nicht klären kann.

Andere Gerichte können in ähnlichen Fällen anders entscheiden, weil das Sozialgericht Berlin ein Gericht auf der untersten Stufe ist. Nur wenn das Bundessozialgericht oder das Bundesverfassungsgericht entscheidet, müssen sich die unteren Gerichte daran halten.

7. Wie können sich Betroffene gegen eine Versagung wehren?

Gegen eine Versagung können Betroffene

Wird der Widerspruch abgelehnt, können sie klagen, Näheres unter Widerspruch Klage Berufung, und zwar je nach Zuständigkeit entweder

Auf dem Ablehnungsbescheid muss stehen, welches Gericht zuständig ist. Meistens ist für Klagen zu Sozialleistungen das Sozialgericht zuständig, aber manchmal ist es auch das Verwaltungsgericht. Das Verwaltungsgericht ist z.B. zuständig, wenn es um eine der folgenden Leistungen geht:

Betroffene können für ein gerichtliches Eilverfahren bzw. für eine Klage

  • zur Rechtsantragstelle des zuständigen Gerichts gehen und dort ihren Eilantrag zu Protokoll geben.
  • einen schriftlichen Eilantrag beim Gericht abgeben.
  • eine Anwaltskanzlei damit beauftragen.

Widerspruch, Klage und Eilverfahren gegen die komplette oder teilweise Versagung von Sozialleistungen sind in der Regel kostenlos. Eine Anwaltspflicht besteht nicht, d.h.: Betroffene können selbst entscheiden, ob sie sich dafür anwaltliche Hilfe holen oder nicht.

Etwaige Anwaltskosten müssen normalerweise

  • über eine private Rechtsschutzversicherung abgedeckt werden
    oder
  • von den Betroffenen ausgelegt werden

und werden nur dann erstattet, wenn das Verfahren gewonnen wird. Wer aber finanziell bedürftig ist und anwaltliche Hilfe braucht, kann hierfür Beratungshilfe bzw. Prozesskostenhilfe beantragen.

8. Praxistipps

  • Wenn Sie sich von der Einreichung der Belege oder Wahrnehmung eines Termins zur Untersuchung überfordert fühlen, teilen Sie das unbedingt Ihrer Ansprechperson beim jeweiligen Amt oder Sozialversicherungsträger mit oder bitten Sie andere Menschen darum, das für Sie zu tun, da sonst ggf. eine existenzielle Notlage mit Hunger und Obdachlosigkeit oder z.B. eine Verschlimmerung einer Behinderung droht.
  • Hindert Sie eine psychische Störung, z.B. Depressionen, Psychosen, ADHS oder Angststörungen, oder eine körperliche Erkrankung, z.B. Krebs, an der Erfüllung der Mitwirkungspflichten, können Sie über eine rechtliche Betreuung und/oder die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen Unterstützung bekommen, die erforderlichen Unterlagen zusammenzusuchen und einzureichen. Am Besten ist es, wenn Sie sich schon vor einem akuten Krankheitsschub vorbeugend darum kümmern.
  • Als Freunde, Angehörige, Bekannte oder Nachbarn sollten Sie hier nicht wegsehen, sondern helfen. Sie können z.B. helfen, die Unterlagen zu sortieren, zu Terminen als Begleitung mitkommen, rechtliche Betreuung formlos beim Betreuungsgericht anregen oder beim Antrag auf Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen unterstützen und so Ihren Mitmenschen Zugang zu dringend nötigen Sozialleistungen ermöglichen.
  • Eine Versagung von Leistungen wegen fehlender Unterlagen kommt nicht nur vor, wenn Sie die Unterlagen nicht in der Ihnen gesetzten Frist eingereicht haben, sondern auch, wenn diese beim Amt oder Sozialleistungsträger verloren gegangen sind. Versuchen Sie deshalb immer, eine schriftliche Eingangsbestätigung zu bekommen, wenn Sie Unterlagen einreichen.
  • Ein Einschreiben reicht nicht, auch kein Einschreiben mit Rückschein, weil dieser nur beweist, dass Sie irgendeinen Brief geschickt haben, aber nicht, welche Unterlagen das waren.
  • Viele Ämter und Sozialversicherungsträger bieten inzwischen an, dass Sie wichtige Unterlagen digital einreichen können und oft erhalten Sie dann auch automatisch eine Eingangsbestätigung, die Sie abspeichern können. Dafür bieten einige Ämter und Sozialversicherungsträger besondere Portale oder Apps an. Wenn Sie diese Möglichkeit nutzen, sinkt die Wahrscheinlichkeit erheblich, dass Unterlagen verloren gehen, und damit auch die Wahrscheinlichkeit, dass Leistungen versagt werden, obwohl Sie nichts falsch gemacht haben.
  • Bei normalen E-Mails, die Sie nicht über ein spezielles Portal oder eine besondere App schicken, bekommen Sie hingegen oft keine Eingangsbestätigung und haben am Ende keinen Beweis, dass Ihre E-Mail auch angekommen ist. Ohne Beweis können Sie sich im Zweifel aber nicht gegen eine Versagung Ihrer Leistungen wehren. Auch wenn Sie Ihre E-Mail an eine andere Person weiterleiten, ist das kein Beweis für den Eingang.

9. Wer hilft weiter?

10. Verwandte Links

Widerspruch im Sozialrecht

Widerspruch Klage Berufung

Bürgergeld > Kooperationsplan und Leistungsminderungen

 

Rechtsgrundlagen: §§ 61f, 65f SGB I

Letzte Bearbeitung: 11.04.2024

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